Die Vertretungsvollmacht im Strafverfahren – gerichtliche Praxis und verfahrensrechtliche Folgen
Die Frage nach dem Vorliegen und der Form einer Vertretungsvollmacht spielt in der strafprozessualen Praxis – insbesondere im Zusammenhang mit Einspruchs- oder Berufungshauptverhandlungen – eine zentrale Rolle. Trotz klarer gesetzlicher Regelungen (§ 411 Abs. 2 StPO) und gefestigter Rechtsprechung kommt es in der Praxis regelmäßig zu Fehleinschätzungen und prozessual problematischen Entscheidungen, insbesondere wenn Verteidiger zurückgewiesen werden oder eine Verwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO erfolgt, obwohl eine wirksame Vertretung vorliegt oder durch kurze Unterbrechung hätte geprüft werden können.
I. Gesetzliche Ausgangslage
Gemäß § 411 Abs. 2 StPO kann ein Angeklagter, der gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt hat, im weiteren Verfahren – auch in der Berufung – durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten werden. Dies gilt unabhängig von einer etwaigen Anordnung des persönlichen Erscheinens. Die Regelung dient der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung.
II. Rechtsprechung zur Verteidigung und Vertretung
Die höchstrichterliche Rechtsprechung differenziert konsequent zwischen Verteidigung (Anwalt handelt im eigenen Namen) und Vertretung (Handeln im Namen des Angeklagten):
- Das OLG Hamm (1 Ss OWi 1414/80) entschied: Ein Verteidiger darf nicht zurückgewiesen werden, nur weil er (noch) keine schriftliche Vollmacht vorlegt. Ihm ist Gelegenheit zu geben, eine Nachreichung oder Klarstellung vorzunehmen. Die Verweigerung ist ein Verfahrensverstoß nach § 338 Nr. 8 StPO.
- Das OLG Dresden (3 Ss 336/12) bestätigte, dass eine schriftliche Vollmacht auch vom Anwalt selbst unterzeichnet sein darf, wenn eine mündliche Bevollmächtigung durch den Mandanten vorliegt.
- Das OLG Dresden (2 Ws 104/05) stellte zudem klar, dass § 411 Abs. 2 StPO auch in der Berufung uneingeschränkt gilt. Die Vertretung ist selbst dann möglich, wenn der Angeklagte geladen, aber nicht erschienen ist.
III. Verfahrensfehler durch mangelnde Prüfungsbereitschaft
Ein häufig übersehener Punkt in der gerichtlichen Praxis ist das Fehlverhalten bei unklarer Aktenlage zur Vollmacht. Besonders problematisch ist die Verwerfung eines Einspruchs wegen angeblich fehlender Vertretungsvollmacht, ohne dass dem Verteidiger Gelegenheit zur Klärung eingeräumt wird.
Maßgeblicher Grundsatz:
Ein Verteidiger hat Anspruch auf eine angemessene Unterbrechung, um in Zweifelsfällen zu prüfen, ob eine schriftliche Vollmacht – in der eigenen Handakte, – in der Gerichtsakte oder – in einem gerichtlichen Vermerk (z. B. über persönliche Übergabe) vorhanden ist. Er muss daher die Gelegenheit haben, die eigene Akte und die gerichtliche Akte prüfen zu können.
Besonders bei umfangreichen Akten (z. B. mehrere Tausend Seiten, verteilt auf mehrere Aktenordner), komplexer Beweislage und intensiver schriftlicher Kommunikation mit dem Gericht (zahlreiche Verteidigungsschriftsätze) ist eine Unterbrechung von 30 Minuten keinesfalls unangemessen, sondern vielmehr sachlich geboten.
Hinzu kommt: Wenn im Vorfeld der Hauptverhandlung mehrfach strukturierte Besprechungen zwischen Verteidigung, Gericht und Staatsanwaltschaft stattfanden, spricht dies indiziell für ein bestehendes und bekanntes Verteidigungsverhältnis, sodass eine voreilige Zurückweisung oder Verwerfung sachwidrig erscheint.
Möglichkeit der Nachbesserung
Nach der Rechtsprechung – insbesondere nach dem OLG Hamm – ist es ein wesentlicher Bestandteil des rechtlichen Gehörs und der Verfahrensfairness, dass der Verteidiger im Termin die Möglichkeit erhält, die Vollmacht nachzubessern. Dies kann durch:
- Vorlage einer Vollmachtsurkunde im Termin,
- Erklärung zur Bevollmächtigung in das Protokoll,
- oder – im Fall der Vertretung – durch Vorlage einer nachträglich mit eigenem Namen unterzeichneten Vollmacht auf Basis mündlicher Beauftragung
erfolgen. Wird diese Möglichkeit verweigert, liegt ein schwerwiegender Verstoß gegen das rechtliche Gehör und die Verteidigungsrechte des Angeklagten vor.
IV. Rechtsmittelrechtliche Folgen und Verfahrensökonomie
Ein Verwerfungsurteil nach § 329 StPO wegen angeblich fehlender Vertretungsvollmacht besteht oft aus einem einzigen Satz. Damit ist das Verfahren in dieser Instanz für das Gericht erledigt. Dagegen erfordert ein sachlich-inhaltliches Urteil eine vollständige Tatsachenwürdigung und schriftliche Begründung. Bei langen Verfahren mit umfangreichem oder komplexem Sachverhalt kann ein solches Urteil durchaus hundert und mehr Seiten umfassen. Dies verdeutlicht das Missverhältnis bei einer vorschnellen Ablehnung der Verteidigung.
Die Rechtsfolge: Gegen das Verwerfungsurteil ist Berufung zulässig (§ 312 StPO). Die Sache wird damit einem anderen Gericht zur erneuten Entscheidung vorgelegt. Das führt zu einer unnötigen Belastung der Justiz durch Verlagerung der Arbeit auf das andere Gericht und kann – je nach Aktenumfang – beträchtlichen zeitlichen und personellen Aufwand auf beiden Seiten verursachen.
Findet sich später die Vollmacht doch noch in der Gerichtsakte, wäre eine Wiedereinsetzung zu erwägen. Ob dies im Hinblick auf eine Befürchtung, die Verweigerung einer Nachbesserung der Vollmacht oder einer Unterbrechung indizierte eine Befangenheit des Gerichts, sinnvoll ist, wäre dabei zu bedenken.
V. Fazit
Die Frage der Vertretungsvollmacht ist nicht bloß eine formale Frage, sondern berührt unmittelbar den Kern der Verteidigungsgarantie nach Art. 6 EMRK und Art. 103 Abs. 1 GG. Gerichte sind gehalten, in Zweifelsfällen nicht zu sanktionieren, sondern Verteidigung zu ermöglichen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat hierfür klare Leitlinien gesetzt – sie sind in der Praxis uneingeschränkt zu beachten:
- Eine pauschale Zurückweisung eines Verteidigers ohne Prüfgelegenheit ist unzulässig.
- Eine halbstündige Unterbrechung zur Akteneinsicht ist bei komplexer Verfahrenslage geboten.
- Die Möglichkeit zur Nachbesserung der Vollmacht in der Verhandlung ist ein verfahrensrechtlich geschützter Anspruch.
- Die Verweigerung dieser Gelegenheit stellt einen relevanten Verfahrensfehler dar.